Auf der Suche nach der Suche [1]

AUF DER SUCHE NACH DER SUCHE

EIN REISETAGEBUCH – KAPITEL 1


Sonne über dem Atlantik bei Cabo Verde (Kapverden)
CABO VERDE – Beginn der Atlantiküberquerung

Sie nennt sich Alix Zander von Humboldt in Anlehnung an den berühmten Weltreisenden und bereist wie ihr Vorbild die Welt (ohne Flugzeug). Mehr von ihrem mutigen Projekt gibt es hier in unregelmäßigen Abständen zu lesen. Los geht es mit gestohlenen Aufzeichnungen und einem holprigen Start!


Die Stationen: Deutschland – Portugal – Kanaren – Kapverden – Dominikanische Republik


Gestrandet. Ausgeraubt. Aufgeschmissen.

Als sei eine Atlantiküberquerung via Segelboot nicht Abenteuer genug, kommt es kurz nach Ankunft auf der Dominikanischen Republik zu einem Raubüberfall. Mit Machete... Ein fantastisches Date führt eines flauen Abends zum Verzehr etlicher Liter alkoholischer Getränke.
Glücklich und lachend tingeln wir des Nachts die Promenade einer kleinen Stadt im Norden der DomRep entlang, als ein Motorrad mit zwei maskierten Männern neben uns hält. Den Kopf voller Endorphine und Betäubung braucht es kurz Zeit, um zu realisieren, dass die beiden mit dem Messer nichts Gutes von uns wollen. Der hintere der beiden springt vom Gefährt, hebt seine Waffe und versucht, mir die Tasche vom Arm zu schneiden. Während ich erfolgreich ausweiche, schnappt sich meine Begleitung den Kerl und versucht, ihm das Messer zu entwenden. Unser Zustand wird zum Verhängnis, denn die etwas geschwächte Kontrolle über seine Motorik lässt ihn stolpern. Ich eile zur Hilfe, was – wie ich heute weiß – eine nur sehr mittelprächtige Idee ist.
Der Angreifer bekommt meine Tasche zu fassen und hebt erneut seine Machete. Mit aller Kraft reiße ich die Tasche aus seinen Händen, doch er beginnt, mit der Waffe zuzuschlagen. Er trifft mich am Arm. Vor Schmerzen löse ich meinen Griff. Er trifft mich erneut, entreißt mir meinen Beutel und springt auf das Motorrad. Schnell wie der Blitz düsen die beiden ab und hinterlassen zwei irritierte Menschen sowie ein schmerzendes Handgelenk.
Was geschehen ist, können wir in diesem Moment schwer begreifen, doch schnell realisiere ich, dass durch den Raubüberfall meine liebsten Dinge abhanden gekommen sind. Dazu zählen mein Tagebuch, sämtliche Notizen sowie eine Auswahl exquisiter Stifte. Darüber hinaus wurden Kreditkarte und Telefon sowie diverse Scherzartikel gestohlen. Der Arm ist geschwollen, die Hand glücklicherweise noch dran. Es ist schmerzhaft, die eigens formulierten Gefühle und Erfahrungen der letzten Monate als verloren zu wissen, insbesondere, da es sich um die Notizen eines sich gerade erfüllenden Traums handelt.

Doch jede Hoffnung kommt zu spät. Nach vorne blicken… Aber wohin, und was ist in den letzten Wochen geschehen?


Also erst einmal der Blick zurück...

»Eine Weltreise ohne Flugzeug. Das habe ich mir vorgenommen und bin nun seit 2,5 Monaten unterwegs, mit dem aktuellen Standort Lupéron, Dominikanische Republik.«

Eine Weltreise ohne Flugzeug. Das habe ich mir vorgenommen und bin nun seit zweieinhalb Monaten unterwegs, mit dem aktuellen Standort Lupéron, Dominikanische Republik.
Mitfahrgelegenheiten, Züge, Fernbusse und letztlich eine 44-Stunden-Fahrt via Fähre haben mich von Süddeutschland nach Teneriffa getragen. Von hier fand sich überraschenderweise innerhalb eines Tages eine Mitsegelgelegenheit in die Karibik. Etwas unvorbereitet und mit drei bislang unbekannten Männern brechen wir von der Marina San Miguel – Teneriffa auf, um zunächst mit einem 45-Fuß-Katamaran gen Cabo Verde zu segeln. Der erste Tag unseres Abenteuers hat wenig mit Segeln zu tun. Wir haben absolute Flaute, doch auch das bringt eine bislang nie gesehene Schönheit mit sich: Glatt wie Seide und geschmeidig wie ein Windows-2000-Bildschirmschoner rollt das Meer seinen blauen Teppich für uns aus. Es scheint so friedlich, dass wir kaum realisieren, uns auf einem fremden Element fortzubewegen. Faszination kalte Magma umgibt uns und verschlingt den letzten Krümel Festland am Horizont. In der Ferne sehen wir einen Schwarm Delfine umhertollen, und langsam folgt der Sonne ein dunkler Vorhang leuchtender Sterne bis zum Horizont. Als sei es die reine Reflexion des Himmels, blinkt mit der Dunkelheit der Nacht blaues Plankton im Wasser auf. Ich fühle mich geerdet – trotz Wasser weit und breit. Draußen am Steuer sitze ich, Sterne über, Plankton unter mir und bin zu Tränen gerührt ob des Geschenks, das mir zugetragen wird. Ich bin genau da, wo ich sein möchte.
Doch auch im Paradies ruft die Arbeit, und so müssen wir jede Nacht verlässlich überprüfen, dass weder Kollisionsgefahren, Gewitter oder plötzliche Auffälligkeiten in unserem Umfeld entstehen. Der Wind frischt auf, und so setzen wir zum ersten Mal die Segel. Das Gefühl des Abenteuers kommt auf, denn wir sind den Elementen ausgesetzt und müssen sie uns zunutze machen – Elemente, denen wir im alltäglichen Leben kaum so nah sind. Es gibt keine Möglichkeit, auf festen, vermeintlich sicheren Boden zu fliehen, sich im Keller zu schützen und die Türe hinter sich zu schließen. Wir haben uns dazu entschieden, einen Weg zu gehen, der nicht einmal nur ein Trampelpfad sein wird, da die Substanz unter uns eine vollkommen andere ist. Der Katamaran arbeitet sich langsam gen Süden und hinterlässt einen kleinen Schnitt in einer götterspeiseartigen Masse, der sich umgehend wieder schließt. Wir hinterlassen keine Spuren, es ist, als würde das Wasser in einer anderen Dimension existieren. Die Zusammensetzung ist für uns nicht greifbar und entrinnt unseren Händen...
An den folgenden Tagen lerne ich die Crew kennen: Tom – den Bootsbesitzer, Lars – seinen Freund aus Jugendzeiten und Julian – einen weiteren Mitfahrer, mit dem ich mir eine 3-qm-Koje teile. Trotz verschiedenster Charaktere kommen wir miteinander aus und gehen meist respektvoll miteinander um. Doch immer wieder bekomme ich zu spüren, dass ich eine junge Frau unter zwei Stereotype-Männern bin. Während mit Julian Gespräche auf Augenhöhe stattfinden, werde ich von Tom wie ein junges Mädchen und von Lars wie eine potenzielle Affäre behandelt. Das leidige Thema einer jeden Frau: nicht ernst genommen oder als Erotikobjekt betrachtet zu werden. Es ist mühsam und unfair, kräftezehrend und enttäuschend. Doch auch das eröffnet Horizonte, denn ich verstehe, wie diese beiden Männer sozialisiert sind und dass ihnen die Hälfte potenzieller Gesprächsthemen sowie unzählige befeuernde Freundschaften durch die Lappen gehen. Ich glaube, jede Frau kann nachvollziehen, wovon ich spreche: von einem nach wie vor bestehendem Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau, in dem frau als minderwertig betrachtet wird.
Dennoch spielt sich unser Team ein, und das Abenteuer nimmt seinen Lauf. Während unserer Nachtschichten kommt es zu aufregenden Zwischenfällen. Der hervorragend ausgestattete Katamaran zeigt um 2 Uhr morgens ein sich schnell bewegendes Objekt auf dem Radar an. Während es zu Beginn noch innerhalb der 3-Meilen-Entfernung um uns herum tingelt, nähert es sich innerhalb weniger Minuten besorgniserregend nah unserem Boot. Ich wecke Lars, um etwaige Manöver auszutüfteln. Worum handelt es sich hier? Um eine Gruppe Orkas? Orkas verteidigen neuerdings ihr Revier, indem sie Segelboote unserer Größe angreifen und deren Ruder zerstören. Vermutlich würde ich als Orka-Weibchen ähnlich handeln, doch in unserem Fall wäre das fatal. Ohne Ruder hätten wir Schwierigkeiten, zu lenken und zu unserem ersten Ziel – Cabo Verde – zu kommen. Gleichzeitig befinden wir uns etwa 300 nm (nautische Meilen – ca. 555 km) mit einer Geschwindigkeit von ca. 12 km/h vom afrikanischen Festland entfernt, von dem wiederum zunehmend über Kaperungen zu lesen ist. Ein Hauch von Panik liegt in der Luft. Auch Tom und Julian sind mittlerweile aufgewacht und aus ihrer Koje an Bord gekrochen.

Das Objekt auf dem Radar bewegt sich auf der Steuerbordseite an uns vorbei und kommt direkt vor uns zum Stillstand. Die Dunkelheit der Nacht erlaubt uns keine Sicht darauf.Wir entschließen uns, den Motor anzuschmeißen und sämtliche Lichter anzuschalten – und plötzlich, so schnell wie es aufgetaucht ist, verschwindet das Objekt vom Radar. Mit seinem Verschwinden taucht unser Katamaran aus dem Nass einer Regenwolke unter das klare Himmelszelt. Vermutlich hat uns das Radar eine Regenwolke angezeigt. Erleichterung macht sich breit.
Nach vier Tagen ist zum ersten Mal Land in Sicht. Umrisse rauer Felsen sind am Horizont zu erkennen. In wenigen Stunden wandeln sich die Umrisse in eine Gruppe stetig wachsender Inseln, die größte mit einer am Hügel klebenden Stadt. Kahle Bergketten reihen sich dahinter, bis sie vom grauen Dunst verschluckt werden. São Vicente, die zweitgrößte der Kapverdischen Insel. Aber alles andere als verde. Wir arbeiten uns in die Bucht, in der wir den Hafen von Mindelo anlaufen. Vorbei an Industrie, Kränen und Containerschiffen steuern wir auf eine Stadt mit bunten kleinen Häusern in allen Farben des Regenbogens zu. Der Wind ist nicht zu unterschätzen, doch Tom steuert den Katamaran sicher an den Steg.
Unsere Füße tasten sich vorsichtig auf fremden Boden. Glücklicherweise handelt es sich um einen schwimmenden Steg, und wir sind zunächst noch nicht von der Schwerkraft festen Untergrunds geschockt. Das ändert sich, sobald wir unsere Vorräte auf dem hiesigen Gemüsemarkt auffüllen. Die ersten Schritte auf fester Erde fühlen sich ohne die kontinuierlichen Bewegungen der See an, als würden wir mit Wucht auf den Boden knallen und sich unsere Beine ungesund in das Innere unseres Körpers bohren. Unser Gehirn hat die Bewegungen des Boots als aktuelle Norm abgespeichert, und plötzlich bewegt sich alles unter uns. Wenn frau und man bedenkt, dass wir uns auf einer kleinen Kruste vertrockneter Lava fortbewegen, unter der ein Feuerball für stetige Blubberblasen sorgt, dieser wiederum kontinuierlich um sich selbst sowie auf seiner Bahn im Weltall kreist, erscheint mir das als gar nicht mehr so unwahrscheinlich.
Mit 31 Caipirinhas verleiben wir uns die stetig schwankende See in unsere Köpfe ein und brechen am nächsten Morgen auf große Überfahrt auf. Das flüssige Gift vom Vorabend bereitet uns ziemliche Schwierigkeiten, das Großsegel mit Reff zu setzen, doch wir haben es ja nicht anders gewollt. Kurs 270° nach Westen. Die Aussicht für die nächsten zwei Wochen ist blau – oben wie unten – und die drei selben Gesichter. Ob das eintönig werden könnte?
Eine Antwort auf diese Frage taucht unmittelbar in der Ferne auf: Die wohl größte Delfinschule, die wir je gesehen haben, kommt von allen Seiten auf uns zu geschwommen. Hunderte Schülerinnen und Schüler begleiten neugierig und unerschrocken unser segelndes Zuhause, springen vor uns in die Lüfte und erlauben uns, sie aus nächster Nähe in aller Ruhe zu beobachten. Ein Geschenk des Wassers. Wir sitzen verzaubert am Bug des Katamarans und können kaum fassen, wie schnell und elegant diese Wesen durch das Meer schießen, während wir unbeholfen wackelnd auf der Oberfläche umherdümpeln. Das Meer ist ein grundlegend differenterer Lebensraum als der, in dem wir aufgewachsen sind. Es steckt voller unentdeckter Geheimnisse, und wir kratzen mit unserer Überfahrt nur an deren Oberfläche. Während uns die Delfinschule an die Hand nimmt und uns durch die Tore dieser Geheimnisse führt, geht die orangene Sahara-Sonne am Horizont unter, und eine Kuppel strahlender Sterne umhüllt unser kleines Boot auf der unvorstellbaren Weite des Meeres.

Alix Zander von Humboldt, 16.03.2022 – Dominikanische Republik



[Fortsetzung folgt]

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