AUF DER SUCHE NACH DER SUCHE
EIN REISETAGEBUCH – KAPITEL 2


Sie nennt sich Alix Zander von Humboldt in Anlehnung an den berühmten Weltreisenden und bereist wie ihr Vorbild die Welt (ohne Flugzeug). Mehr von ihrem mutigen Projekt gibt es hier in unregelmäßigen Abständen zu lesen.
MEER-SPAGHETTI
Hier erfahren wir mehr darüber, wie es sich anfühlt, den großen Ozean auf einem kleinen Segelschiff zu überqueren, fern von all den »Segnungen« der Zivilisation und den Sicherheiten und Routinen des Alltags, und wie dünn die Fäden sein können, an denen das Leben auf hoher See hängt.
Orangener Saharastaub liegt nach dem Aufbruch von Cabo Verde noch tagelang in der Luft und tunkt den Himmel an Abenden in mystisch-dunstiges Wüstenfeeling. Die Tage kommen und gehen, und die
Wellen pendeln sich von Tag zu Tag in ein gleichmäßiges Auf und Ab ein. Obwohl sie mittlerweile die Größe unseres Katamarans bei Weitem übersteigen, besteht unser Vorankommen aus einem
rhythmischen sanften Anheben und vorsichtigem Absetzen.
Auch unser neues Leben als Seemenschen fühlt sich zunehmend routiniert an. Glasklarer Himmel mit dahinschießenden Sternen und leuchtendes Plankton im Meer bieten uns des Nachts beste
Unterhaltung, während wir tagsüber stetig wachsende fliegende Fischschwärme bobachten dürfen. Doch was wäre ein Abenteuer ohne Abenteuer?
Gerade als wir weit genug vom Festland entfernt sind – nämlich 600 nm (ca. 1.110 km), und das mit zwei Wochen Reisezeit (durch Gegenwind), wache ich des Nachts um 2:00 a.m. von wildem Getrampel
an Deck auf. Nervöses Rufen zwischen Tom und Julian lässt mich verschlafen die wenigen Stufen an Deck stolpern. Über die Brücke sehe ich Julian auf dem vorderen Netz liegen und verzweifelt
versuchen, das große Vorsegel – unser Gennaker – mit all seiner Kraft einzuholen, während Tom draußen in voller Montur am Steuer steht und versucht, das Boot in den Wind zu stellen, um es ihm
einfacher zu machen.
Das Gennaker schlägt laut und bedrohlich über die Reling und droht zu reißen. Als mir klar wird, dass Julian nicht gegen die Gewalt des plötzlich aufgekommenen Sturms ankommt, renne ich in die
Koje und tausche meinen Pyjama gegen wettertauglichere Kleidung. Mein noch schlaftrunkenes Hirn versucht, Erklärungen und synaptische Verbindungen zu formen, mit dem Ergebnis: Wir sind in einen
squall geraten – eine Unwetterzelle, die nebst Sturmböen auch Regen und unvorhersehbare Winddrehungen mit sich bringt. Dadurch besteht die Gefahr, dass ungereffte Segel (reffen = die Segelfläche
stauchen, um weniger Wind einzufangen) reißen, der Mast durch eine ‘Patenthalse’ (falsche Drehung durch den Wind) bricht oder das Boot durch starke Krängung dem Untergang geweiht ist.
Martin liegt also verzweifelt im permanent drehenden Sturm, und das Vorsegel ist drauf und dran zu reißen. Rettungsweste schließend eile ich erneut an Deck. Das Gennaker wurde bereits eingeholt,
für das Großsegel klettern wir zu dritt mit dem ebenfalls erwachten Lars auf das Dach des Katamarans. Rodeo. Die wild kreuzenden Wellen lassen uns unkontrolliert über das Wasser hüpfen. Wir
klammern uns mit einem Arm am Mast fest, um mit dem freien Arm das Großsegel vom Baum herunterzuholen.
An ordentliches Zusammenfalten ist natürlich nicht zu denken, denn sobald Teile des Segels auf dem Mast liegen, fangen sie Wind und flattern unkontrolliert um unsere Köpfe. Der plötzlich
einsetzende Regen durchnässt uns von oben bis unten, und unser Untergrund wird rutschig. Mit zusammengebissenen Zähnen, schreiender Kommunikation und vereinten einarmigen Kräften gelingt es uns
nach wenigen Minuten, das Großsegel einzuholen, und wir schwanken – Captain Jack Sparrow gleichend – auf die überdachte Brücke, um unser Manöver zu besprechen. Durch den Wind. Und das im wahrsten
Sinne. Wir stellen fest, dass der Wind innerhalb weniger Minuten um 190° gedreht hat. Bei unseren Versuchen, die Segel einzuholen, haben wir auf unserer Routenaufzeichnung ein abstraktes
Kunstwerk hinterlassen. Um in der Zukunft ähnlichen Gefahren entgegenzuwirken, ist unsere Konsequenz nun, des Nachts ausschließlich gereffte Segel zu setzen und die Wolken zu lesen, wodurch
unsere Nachtschichten verantwortungsvoller werden.
Mir bleiben noch drei Stunden bis zu meiner Morgenschicht. Ich schmeiße mich in die Koje und tanke noch ein wenig Energie bis zu meinem Arbeitseinsatz. Die Atmosphäre der morgendlichen Schicht
bringt ein Gefühl von der Ruhe nach dem Sturm mit sich. Wir befinden uns inmitten grauer Regenwolken, die einen dunklen Schleier am Horizont abregnen. Gerade als es Zeit für den Sonnenaufgang
ist, öffnet sich ein kleines Fenster in der dichten Wand der schweren Regenwolken und lässt eine Idee von warmem Licht einfallen.
Auch wenn der Interpretationsspielraum für diesen Hoffnungsschimmer nahezu kitschig gigantisch ist, müssen wir am selbigen Morgen feststellen, dass unser Wassermacher nicht anspringt. Der
Wassermacher filtert Salzwasser aus dem Meer in trinkbares Süßwasser. Wir sind auf ihn angewiesen, um der Dehydrierung der Mann- und Frauschaft entgegenzuwirken. Deshalb werfen wir einen Blick in
die Bilge (in den Stauraum unter dem Fußboden in Booten), in der die Maschine lokalisiert ist, und müssen feststellen, dass sich ein recht ordentlicher Fluss vom Wassermacher in Richtung
Lenzpumpe seinen Weg bahnt.
Wir bauen das Bett auseinander, um in die Bilge zu kriechen. Alles trieft: Die Rucksäcke werden zum Trocknen in die sich mittlerweile durchgesetzte Sonne gelegt. Unsere Lebensmittel können nun
zur Kategorie ‚gepökelt‘ gerechnet werden. Unsere aktuellen Wasserreserven: 48 Liter extern gelagerte Kanister für vier Personen und acht Tage könnten bei den stetig steigenden Temperaturen
grenzwertig werden. Duschen und Waschen wäre nur mit Salzwasser möglich, zu Essen gäbe es Dosenfutter oder Müsli mit den geschätzten 62 Litern Milch, die in Toms Bilge gelagert sind.
Gemeinsames Nachdenken bringt uns auf den logischen Schluss, dass der Wassermacher im hohen Wellengang der letzten Nacht Luft gezogen hat. Wir spülen ihn mit den letzten Wasserreserven in den
Containern durch, in der Hoffnung, die Lufteinschlüsse herauszuschwemmen, doch ohne Erfolg. Mehrere Stunden Werkeln in einer schmerzhaft gekrümmten Haltung im Bettkasten zwingen uns zu einer
Mittagspause, die ob des Süßwassermangels vom salzigsten Spaghettigericht unseres Lebens begleitet wird. Nachdem wir also unsere leeren Energiereserven wieder aufgeladen haben, gelingt es uns
anschließend, die Maschine neu zu justieren – diesmal mit Erfolg!
Die Ereignisse der letzten 12 Stunden haben uns ausgelaugt. Fix und fertig liegen wir verteilt auf dem Katamaran. Selbst der Wind hat heute nach der wilden Nacht frei, und wir dümpeln in Flaute
über das unsäglich tiefe Nass aus Königinnenblau. Die Sehnsucht nach einer mentalen und körperlichen Erfrischung ist groß und lässt uns mutig werden: Wir werfen eine Schnur mit Rettungsring-Ende
über Bord, um ins 4.500 Meter tiefe Wasser zu springen. Es ist ein aufregendes Gefühl, nicht zu wissen, welche unerforschten Tiere auf dem halben Mount Everest unter uns leben, und sich die
Ausmaße der Massen vorzustellen, die wir nur vage erahnen können. Sanfte Wellen reihen sich gleichmäßig webend hintereinander, und mit Pink Floyd aus den Lautsprechern legen wir uns nach dem
kühlen Bad meditativ auf das Trampolin in die Sonne. Danke, Universum. Es braucht doch immer wieder Herausforderungen und Dunkelheit, um die Schönheit heller Momente schmecken zu können.
Tagelang nichts als Wasser rundherum. Wir begegnen keiner Menschenseele. Nach einer Woche auf dem Ozean ohne menschlichen Kontakt wird mir klar, wie hinfällig die Floskel von der ‘kleinen Welt’
ist. Die Erde ist nicht klein – im Gegenteil. Der Großteil ist jedoch von Wassermassen bedeckt. Auf der ca. 30%igen Landmasse des Erdballs bewegt sich der Mensch für gewöhnlich fort, und das
wiederum hauptsächlich in Ballungszentren. Laut zeit.de lebt die Hälfte der Erdbevölkerung auf einem Prozent der Landfläche. Es ist nicht die Welt, die klein ist, sondern unsere
Bewegungsfreiräume und -möglichkeiten und unser Mut, uns in andere Umgebungen zu begeben. Ich bin fasziniert von der unerforschten Fläche dieses riesigen Planeten und erstaunt über den naiven
Gebrauch dieser Phrase, die auch ich bis zum heutigen Tage angewendet habe.
Sind wir vielleicht die ersten Menschen, die sich auf diesen Koordinaten befinden? Und wenn ja – Spuren können wir nicht hinterlassen, lediglich in uns selbst. Die Magie dieser Tage lässt die
Zeit rasend schnell vorübertanzen, und ich stelle etwas wehmütig fest: Es ist Halbzeit. Wir haben die Hälfte unserer Route auf dem Atlantischen Ozean besegelt und möchten das feiern. Mit Captain
Morgan und überreifen Bananen backen Lars und ich einen »Hochseekuchen«, mit dem angestoßen wird. Halbzeit... Noch nie habe ich die Zeit auf einer Reise so begreifen können wie auf dieser. Wir
segeln Tag und Nacht im Schnitt mit etwa 15 km/h über das Meer und beobachten, wie sich unsere Perspektive zum Mond ändert, Sterne erscheinen, die wir zuvor noch nie gesehen habe, und die Tage
ändern ihren Rhythmus. Stetig wandelt sich die Umgebung, kontinuierlich sind wir in Bewegung. Dieselben Aussichten ändern jede Minute ihre Gesichter, verkleidet und bemalt tanzen sie mit
leuchtenden Farben am Himmel vorbei, bis sie sich in Luft auflösen. Der Inbegriff von Vergänglichkeit ist selten so klar zu spüren.
Nach Gusto, doch in der Regel im 4-Tages-Rhythmus wird unsere Bordcomputeruhr angepasst, während wir uns von Längengrad zu Längengrad um den Globus hangeln. Unser Tempo fühlt sich natürlich und
geerdet an. Es ist eine Geschwindigkeit, die der unserer Realität nahekommt und unsere Gesundheit fördert. Wir haben genug Zeit, Seele und Körper besinnlich neu zu justieren und im vollen
Bewusstsein voranzuschreiten. Mir wird klar, wie anspannend die in unserer Zeit standardisierte Fortbewegung mit schnellen Vehikeln ist und wie schnell wir drohen, lediglich in unserer Hülle von
Ort zu Ort rasen, während das Gemüt zurückbleibt und in seinem Tempo versucht aufzuschließen.
Auf unserer Reise über den Ozean wird jeder Moment klar und greifbar. Sonnenuntergänge leuchten intensiver, Zuckerwattewolken scheinen weicher, Essen schmeckt köstlicher. Unsere Gefühle haben
Raum, sich auszutoben, und wir haben Freude, die Wände einzureißen und sie sprudeln zu lassen. Und – so sehen wir etwas zu knapp die gigantische Regenzelle, die auf uns zu braust. Während Julian
und ich fröhlich schwankend ein 3-Gänge-Menü in der Küche zubereiten, schmeißt sich Tom ins Ölzeug und entschließt sich kurzerhand, unser schwimmendes Heim durch den Sturm zu segeln. Unmittelbar
darauf befinden wir uns inmitten eines Wasserfalls, der mit umgerechnet 70 km/h Wind daherkommt. Kein Licht dringt durch den dicken Wolkenvorhang. Stattdessen trägt er weiße Regenschleier mit
sich, die Horizont mit Meer verschwimmen lassen. Sie peitschen über uns hinweg und schließen ihr Schauspiel mit einem strahlenden Regenbogen ab. (Fortsetzung folgt)
Alix Zander von Humboldt, 16.03.2022 – Dominikanische Republik
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